Die Psychologie der Unvernunft

Artikel aus Spiegel – 25.10.2020, 16.25 Uhr

Die Corona-Infektionszahlen steigen dramatisch, und das hat viel mit Psychologie zu tun. Vier Faktoren halten Menschen davon ab, das Richtige zu tun.

Christian Stöcker – Jahrgang 1973, ist Kognitionspsychologe und seit Herbst 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort verantwortet er den Studiengang „Digitale Kommunikation“.

„Die meisten Menschen haben eine übertrieben positive Vorstellung von sich selbst, ihrer Fähigkeit, ihre Umwelt zu beeinflussen, und von ihrer eigenen Zukunft.“ bemerken die Psychologen Shelley Taylor und Jonathon Brown (1994)

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Es ist vermutlich schwer zu glauben, aber die meisten Menschen sind im Grunde zu optimistisch. Wir glauben zum Beispiel gern, dass die Zukunft für uns eher keine Krankheiten bereithalten wird, und dass Unglücke im Zweifel eher andere treffen werden als uns selbst.

Viele Menschen fühlen sich im Vergleich zu ihrem wirklichen Alter immer jünger, je älter sie werden. „Jugendlichkeitsverzerrung“ heißt das in der Psychologie.

Diese Illusionen sind sogar gesund: Wer optimistischer in die eigene Zukunft blickt, bleibt oft tatsächlich länger fit. Außerdem schützen uns unser eigentlich übertriebener Optimismus und die Illusion, viel mehr Kontrolle über unser Schicksal zu haben, als wir es wirklich tun, im Idealfall vor Depressionen.

Aber was bedeutet das für die COVID-19 -Maßnahmen?

Vier Faktoren, die uns im Weg stehen

1.) Dieser unrealistische Optimismus bringt uns in Gefahr, wenn es darum geht, in der Zukunft lauernde Risiken richtig einzuschätzen. „Mich wird es schon nicht treffen“ ist im Fall einer globalen Pandemie eine riskante Grundhaltung. Und zwar nicht nur für einen selbst.

Noch immer finden hierzulande zwar weniger als 20 Prozent der Befragten laut einer repräsentativen Studie (Oktober 2020) die derzeitigen Anti-Corona-Maßnahmen „übertrieben“. Gleichzeitig aber halten es 42 Prozent für „extrem oder eher unwahrscheinlich“, dass sie selbst sich anstecken könnten. Die emotionale Einschätzung, das „gefühlte Risiko“ sei „(eher) hoch“, ist seit März von über 50 auf 38 Prozent gefallen. Die Menschen werden also tatsächlich sorgloser.

Anekdote schlägt Statistik

2.) Teil des Problems ist auch das Gefühl, sich doch schon so lange einzuschränken, oft, ohne jemals persönlich mit einem schweren Covid-19-Krankheitsfall konfrontiert gewesen zu sein. Persönliche Erlebnisse schlagen Statistiken immer noch um Längen, wenn es darum geht, sich ein Bild von der Welt zu machen. „Ist doch schon so lange gut gegangen!

Wer seit Monaten maskiert durch seinen Alltag geht, ohne je persönliche Erfahrungen mit der Gefährlichkeit des Virus gemacht zu haben, dem kommt womöglich das Gefühl für die derzeit wachsende Gefahr abhanden. Daran scheinen auch Berichte über schwere Verläufe, schlimme Spätfolgen oder gar Todesfälle bei jüngeren Infizierten nichts zu ändern.

Anders gesagt: Die bislang relativ erfolgreichen Anti-Corona-Maßnahmen erschweren paradoxerweise ihre eigene Aufrechterhaltung. „Ist doch nichts passiert“ wird umgedeutet zu „wird schon nichts passieren“.

Folgerichtig nimmt das seit Monaten zu, was die Weltgesundheitsorganisation „Pandemiemüdigkeit“ nennt: Die Zahl der Menschen, die sich immer weniger über das Virus informieren, sich zunehmend weniger an Schutzmaßnahmen halten und sich selbst weniger bedroht fühlen, wächst.

3.) Zu diesen zwei Faktoren, unserem gesunden aber übertriebenen Optimismus und unseren kognitiven Problemen beim Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, kommt ein dritter, sehr menschlicher: Es fällt uns sehr schwer, Menschen, die wir kennen und mögen, als potenzielles Risiko zu betrachten. Das kennen viele zweifellos von sich selbst: Diese Person, die ich doch gut kenne und die keinerlei Symptome zeigt, ist doch bestimmt nicht ansteckend.

Fühlen Sie sich ertappt?

Das Resultat sieht man in den Zahlen der letzten repräsentativen Studie zum Thema: Zum Beispiel gab nur ein Drittel der Befragten an, bei privaten Treffen mit mehr als 10 Personen eine Maske getragen zu haben – bei beruflichen Treffen waren es zwei Drittel. Die Hälfte gibt zu, bei größeren privaten Treffen nicht den Mindestabstand von 1,50 Metern eingehalten zu haben – im beruflichen Umfeld dagegen halten sich eigenen Angaben zufolge drei Viertel an die Abstandsregeln.

Das Infektionsrisiko steigt mit der Stimmung

Das ist verständlich: Freunden und Verwandten kommt man in der Regel lieber nahe als Kolleginnen und Kollegen, und im Arbeitsumfeld wird vermutlich auch stärker auf die Einhaltung von Regeln geachtet. Es ist aber auch fatal: Im Moment scheint sich das Virus dort besonders schnell und effektiv auszubreiten, wo sich Menschen privat versammeln.

Leute, die man mag, können leider ebenso ansteckend sein wie solche, die man nur flüchtig kennt. Dazu kommt: Das Infektionsrisiko steigt gewissermaßen mit der Stimmung. Alkohol, laute Gespräche, herzliches Lachen, eng zusammenstehende Gruppen – lauter Risikofaktoren.

Werden Sie Vernunftbotschafter

Der kombinierte, derzeit sehr dramatische Effekt: Im Augenblick scheinen sich die Infiziertenzahlen exponentiell zu entwickeln. Das heißt, die Kurve der Corona-Fälle steigt nach rechts immer steiler an. Und das ist sehr bedrohlich – wenn sich die Zahl von mehr als 11.000 Fällen (gilt für Deutschland) in den sieben Tagen vom 23. bis zum 30. Oktober noch einmal verdoppelt (wie sie es zwischen dem 15. und dem 22. Oktober getan hat) und in der Woche danach noch einmal, dann wären wir Anfang November bei 44.000 Fällen. Eine Woche später bei 88.000. Und so weiter. Das sollte eigentlich ein guter Grund sein, die geplante Halloween-Party abzusagen.

Noch können wir die Kurve wieder abflachen, aber viel Zeit bleibt nicht mehr.

4.) Das ist das Wesen des exponentiellen Wachstums: Zuerst passiert scheinbar wenig, und dann geht alles plötzlich ganz schnell, und wir können uns das sehr schlecht vorstellen. All das hat leider zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit für noch weit stärkere Restriktionen in den nächsten Tagen und Wochen wächst.

Es gibt allerdings einen psychologischen Faktor, der uns vielleicht doch noch helfen kann: soziale Normen. Wir können uns gegenseitig dazu bringen, das Richtige zu tun, heißt es in einer Überblicksstudie, die im April in „Nature“ erschien: „Soziale Netzwerke können während einer Epidemie die Verbreitung von Verhaltensweisen verstärken, die sowohl schädlich als auch hilfreich sind, und diese Effekte können sich durch Netzwerke von Freunden, Freunden von Freunden und sogar Freunden von Freunden von Freunden verbreiten.“

Wir alle können also jederzeit zu Botschaftern der Vernunft werden.